Autobiografie des Illustrators Robert Beer (von der Erstausgabe)

Version der Erstausgabe des Buches Die Legenden der 84 Mahasiddhas, bei Sphinx, Basel, 1988 erschienen, welche durch den Illustrator für die Ausgabe 2014 neu geschrieben wurden.

Der Bitte des Verlegers folgend habe ich mich nach einigem Zögern dazu entschlossen, meine Entwicklung zu beschreiben. Ich hoffe damit aufzeigen zu können, wie sich visionäre Kunst aus direktem visionären Erleben heraus entwickelt.

Geboren wurde ich im September 1947 in Cardiff, Südwales. Als Kind litt ich unter einer milden Form der Epilepsie, welche mich von Zeit zu Zeit Zustände von Geistesabwesenheit und lebhafter Einbildungskraft erleben ließ. Diese Erfahrung trug möglicherweise dazu bei, dass ich schon sehr früh fand, innere und äußere Welt seien nicht deckungsgleich. Als ich dreizehn Jahre alt war, starb meine dreijährige Schwester an Gehirnwassersucht. Dass jemand mit dieser liebenswerten Unschuld und Hilflosigkeit einfach zu existieren aufhören konnte, beeindruckte mich stark, und an ihrem Todestag flog ich in einem wunderschönen, lebhaften Traum mit meiner kleinen Schwester, die wieder lebte und ganz gesund war, durch die Lüfte. Die Erfahrung, dass am Ende des Lebens der Tod steht, führte mich zu den ewigen philosophischen Fragen: Wer bin ich? Woher kommen wir und wohin gehen wir? Was ist Gott? So begann ich mich erst für Kosmologie, dann für Religion, darunter speziell Hinduismus und Buddhismus zu interessieren.

Da ich mich stark zu Religion und Kunst hingezogen fühlte, bemühte ich mich um Aufnahme in eine Kunstschule, wurde aber wegen meiner Farbenblindheit nirgends aufgenommen. 1966 erlebte ich zum ersten Mal die Wirkung von LSD und entdeckte damit einen unmittelbaren Zugang zur Geisteswelt. Ich verschrieb mich für die nächsten drei Jahre der psychedelischen Erfahrung und jede Reise zu den Antipoden des Geistes wurde eine erweiternde mystisch-religiöse Erfahrung, die mir nahezu grenzenlose Einsichten in die Natur des Geistes eröffnete. Mein gnostisches Erwachen fiel zusammen mit der psychedelischen Bewegung in den Sechzigern und der gleichzeitigen Öffnung des Westens für die östliche Geisteswelt; und für einige wohltuende Jahre waren meine inneren und äußeren Welten wieder harmonisch vereint. Zu jener Zeit begann ich, inspiriert vom archetypischen Symbolismus religiöser Kunst, ernsthaft zu zeichnen und malen. Die Zeit der Harmonie sollte jedoch schon bald zu Ende gehen, da die psychedelischen Erfahrungen extreme Ausmaße angenommen hatten und meine instinktiven Überlebensprogramme zu beeinträchtigen begannen.

1969 unternahm ich meinen letzten LSD-Trip, der mich nicht allzu weit führen sollte: Ein verrückter Schmerz explodierte in meinem Gehirn, ich fiel in Bewusstlosigkeit und als ich wieder zu mir kam, hatte sich meine Welt völlig verändert. Es gab nur noch mich, nichts anderes, aber dieses «Ich» besaß keine feste Identität mehr; mein Bewusstsein war sprichwörtlich explodiert und ich hatte die düstere Welt einer Psychose betreten, in der es die furchtbare Gewissheit gab, dass ich von nun an nur noch aus diesem psychotischen Zustand heraus leben müsste. Der Traumzustand vereinte sich mit meinem Alltagsbewusstsein zu einer kaum erträglichen, körperlosen Erfahrung, außerdem fühlte mein Schädel sich dauernd an, als stünde er unter Hochspannung und brannte wie Feuer; ich hatte das Gefühl, wie wenn Stricknadeln in meine Ohren stechen würden und fühlte einen unheimlichen Druck hinter den Augen. Verschiedene Körperteile, wie Wirbelsäule, Arme und Beine, waren zeitweise völlig starr.

Meine Persönlichkeit begann sich zu spalten und ich fühlte mich ständigen Angriffen von Dämonen ausgesetzt. Aber das erschreckendste an meinem Zustand war das Gefühl der Auflösung ins Nichts, welches eine Realität darstellte, der ich auf keinen Fall anheimfallen durfte. Setzte ich mich mal für eine Weile ruhig hin, spürte ich, wie sich mein Körper in den Raum aufzulösen begann und Furcht bemächtigte sich meiner, dass ich nicht mehr in das Reich der Form zurückfinden würde. Wenn ich in einem Stuhl saß, musste ich mich immer wieder kneifen um das Gefühl, dass meine Beine verschwinden würden oder meine Wirbelsäule sich in die Weiten des Universums ausdehnte, loszuwerden. Jedes Objekt, das ich berührte, wurde zu einem Teil von mir; ich musste mich jeweils richtig davon losreißen und mich wieder der Grenzen meines Körpers vergewissern. Unter diesen Umständen wurden mir menschliche Umarmungen zu einem Horror, weil jede das Verschmelzen zweier Körper zu einem einzigen bedeutete.

Ich litt konstant unter der Angst, in diesem Zustand zu sterben. Einsamkeit, lange Spaziergänge, Musik spielen und Malen wurden zu meinen Therapien und die Konzentration auf Musik oder das Malen lenkte mich von dem immerwährenden Zustand der Auflösung ab. Ich lebte lange Jahre unter diesen unmenschlichen Bedingungen, welche sich mit der Zeit von extremer Intensität zu einem erträglicheren Zustand hin milderten. Es mag auch sein, dass ich mit den Jahren die Fähigkeit entwickelte, mit meinem Zustand einigermaßen umzugehen.

1970 reiste ich nach Indien und begann mich dort in der Thanka-Malerei auszubilden. Dieser Entschluss war nicht das Resultat reiflicher Überlegung, sondern entsprang meiner intuitiven Identifikation mit den Energien, die im tibetischen Götterhimmel personifiziert werden. Wie sagt es William Blake: «Alles Göttliche wohnt in des Menschen Brust.» Ich machte die Erfahrung, dass das Malen von Göttern zum harmonischen Ausdruck eines endlosen, unfassbaren inneren Sturms wurde. Bald begann ich selbst das Malen von Thankas zu unterrichten und lebte für einige Zeit mit dem tibetischen Maler Jampa zusammen in Dharmsala; er und seine Schüler brachten mir bei, was beim Zeichnen der Gottheiten zu beachten ist.

Robert Beer

Die folgenden sechs Jahre lebte ich in Indien und Nepal, täglich während zwölf Stunden malend; dabei hoffte ich immer, jemandem zu begegnen, der meinen psychischen und geistigen Zustand verstehen und ihn mir verständlich machen könnte. Eines Tages, man hatte mich dazu überredet, an einem zehntägigen Vipassana-Meditationskurs unter der Leitung eines burmesischen Lehrers namens Goenka teilzunehmen, trieb mich etwas dazu, diesem Burmesen unter Tränen meinen Zustand zu schildern. Nachdem ich meine Schilderung beendet hatte, entstand ein Augenblick der Stille, bevor Goenka in lautes Lachen ausbrach, das in mir völlige Verständnislosigkeit auslöste. Danach stellte er mir einige präzise Fragen, die zeigten, dass er meinen Zustand wirklich verstand, im weiteren erklärte er mir, dass meine Erfahrung der Wirklichkeit eben so sei und ich dies akzeptieren und versuchen sollte, mich nicht vor der Auflösung des Egos zu fürchten und mich nicht allzu ernst zu nehmen. Er gab mir Hinweise zur Anwendung der Vipassana-Techniken, die mir die körperliche Erfahrung molekularer und zellulärer Vorgänge wieder zugänglich machen würden. Mit der Zeit und wachsenden Einsicht normalisierte sich mein psychisches Erleben auf einer «normaleren» Ebene der Wahrnehmung, aber die Pforte ist immer noch geöffnet, und manchmal durchschreite ich sie – jetzt allerdings bin ich Besucher und nicht mehr ständiger Insasse. Während der Zeit, die ich weiterhin in Indien und Nepal verbrachte, setzte ich meine Ausbildung in Thanka-Malerei und indischer Musik fort. Dem Rat mancher einheimischen Thanka-Maler und Lamas folgend, erzielte ich rasche Fortschritte in meiner künstlerischen Entwicklung und das letzte Jahr in Indien verlebte ich in der tibetischen Kunsthandwerksgenossenschaft von Tashijong, wo ich an einer Reihe von Bildern für meinen geistigen und künstlerischen Lehrer Khamtrul Rinpoche arbeitete, einen großen tibetischen Lama, der unter anderem als der beste lebende Thanka-Maler seiner Zeit galt.

Ich verließ Indien gegen Ende des Jahres 1975 und lebe gegenwärtig in einer abgelegenen Gegend des schottischen Hochlands zusammen mit meiner Frau und unseren zwei Töchtern. Tibetische Kunst und tibetischer Buddhismus sind immer noch mein Hauptanliegen, wobei ich zur Zeit mit umfangreichen Arbeiten für Buchillustrationen beschäftigt bin.

Die Farbbilder in diesem Buch sind Reproduktionen von Miniaturen und sind ungefähr in der Originalgröße wiedergegeben: 165 mm x 216 mm und 210 mm x 273 mm. Als Farbe benutze ich Gouache (Wasserfarbe), zur Ausführung der Dekorationen Gold. Gemalt werden die Bilder auf starkes Hammerpapier und Bristol-Karton. Die Hintergründe sind in Airbrush-Technik ausgeführt, während die Figuren und Einzelheiten im Vordergrund mit einem kleinen Pinsel gemalt wurden. Für die Dekorationen und Goldlinien verwendete ich einen Haarpinsel, den ich so bearbeitete, dass er nur noch die Dicke einer Stecknadel hat. Die Technik erlaubt kein Übermalen, sodass Fehler kaum mehr korrigiert werden können.

Die Zeichnungen wurden mit Pinsel und China-Tinte auf Hammerpapier ausgeführt. Für die Anfertigung jeder einzelnen Zeichnung eines Siddhas brauchte ich etwa vierundzwanzig Stunden, und für die Gouachen musste ich zwischen achtzig und hundertzwanzig Stunden rechnen, sodass die für das vorliegende Buch aufgewendete Zeit mehr als viertausend Stunden beträgt.

Oft werde ich gefragt, wieviel Anteil das Traditionelle an meinen Bildern hat und wieviel davon meiner eigenen Gestaltungskraft entspringt. Dabei fällt es mir schwer, eine einfache Antwort zu finden, da an einem wesentlichen, nicht genau festlegbaren Punkt Tradition und Imagination sich vereinen. Als Inspiration für meine Arbeit ziehe ich verschiedene Quellen zu Rate, so sind etwa zehn meiner Zeichnungen und Miniaturen von einer außerordentlichen Sammlung chinesischer Thankas des Statens Etnografiska Museums in Stockholm beeinflusst, und einige andere hatten tibetische Wandmalereien aus Gyantse und vom Tempel des fünften Dalai Lama in der Nähe von Lhasa zum Vorbild. Die wichtigsten Mahasiddhas habe ich in der traditionellen, charakteristischsten Erscheinungsform dargestellt; die Darstellungsform des größten Teils der weniger bekannten Siddhas jedoch entsprang meiner inneren Inspiration.

Jede Tradition hat ihr Entstehen und ihre Fortdauer aus der menschlichen oder göttlichen Imagination bezogen. In diesem Sinn stellt die Tibetische Kunst ein Panorama der stilistischen Einflüsse von Griechenland und Persien, über Zentralasien und Indien bis China dar. Besonders der Vajrayana Buddhismus hat, wo immer er auch Fuß fasste, für das Entstehen neuer kultureller Ausdrucksformen gesorgt. Durch seine gegenwärtige Verbreitung in der westlichen Zivilisation des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, wird er unweigerlich einen Wandel des Ausdrucks und der Vision erfahren. Um es mit einem Sprichwort zu sagen: «Der Brunnen liefert immer dasselbe Wasser, aber die Stadt verändert sich dauernd.» Die Mahasiddhas als menschliche Wesen mit historischem Charakter sind nicht Gegenstand einer strikten, ikonographischen Struktur visualisierter Gottheiten. Die Form ihrer Darstellung ist, wie ihre Art zu Leben, immer eine solche des freien Ausdrucks und der Energie reiner Verzückung.

Robert Beer (ca. 1988)

In der aktuellen Ausgabe des Buches von 2023 findet sich eine neuere Version der Anmerkungen des Illustrators, entsprechend der amerikanischen Ausgabe von 2014.

Addendum zum Buch: Die Legenden der 84 Mahasiddhas. Die Leben der Meister des Tantra. von Abhayadatta, übersetzt von Keith Dowman & Bhaga Tulku Pema Tenzin, illustriert von Robert Beer, aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Saupe.

Klassiker Wiederaufgelegt (Band 9) edition khordong im Wandel Verlag, Berlin, erscheint zum Vollmond am 4. Juni 2023, 262 Seiten, mit 30 farbigen und 33 schwarzweißen ganzseitigen Illustrationen, Klappenbroschur, 15×21,5 cm, 30€, ISBN: 978-3-942380-35-5
https://www.wandel-verlag.de/die-legenden-der-84-mahasiddhas/

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